Außenwissenschaftspolitik für eine multipolare Welt—Systemrivalität, Konfrontation und globale Krisen

Außenwissenschaftspolitik für eine multipolare Welt—Systemrivalität, Konfrontation und globale Krisen

Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hrsg.) (2022) Außenwissenschaftspolitik für eine multipolare Welt—Systemrivalität, Konfrontation und globale Krisen. DAAD Perspektiven.

Der 24. Februar 2022, in dessen Morgenstunden der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begann, ist noch am gleichen Tag als Zäsur in der europäischen Geschichte beschrieben worden. Kurz darauf wurde er auch als Zäsur in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik greifbar: In seiner Rede vom 27. Februar sah Bundeskanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ gekommen. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung leiteten die Abkehr von fundamentalen Prinzipien deutscher auswärtiger Politik der vergangenen Jahrzehnte ein: die Unterstützung eines nie dagewesenen Sanktionsregimes gegen Russland, das Ende der Energiepartnerschaft einschließlich der Gas-Pipeline Nord Stream 2, umfassende Waffenlieferungen an die Ukraine, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und ein klares Bekenntnis zum Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Wenn 1989 das Ende des mehr als vierzig Jahre währenden Kalten Krieges mit der Sowjetunion markierte, dann bringt 2022 das Ende einer über dreißig jährigen Ära der Globalisierung mit dem Versuch der Einbindung Russlands und des gesamten postsowjetischen Raums. Bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn reagierte auch die deutsche Wissenschaft mit Entschlossenheit auf den russischen Angriffskrieg: Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen entwickelten eine Fülle von Hilfsangeboten für geflüchtete ukrainische Studierende und Forschende sowie Strategien für den Erhalt von Hochschulbildung und Forschung im Land selbst. Zugleich legten deutsche Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen gemeinsame Projekte mit russischen Institutionen auf Eis und schränkten den Austausch zwischen deutschen und russischen Studierenden, Promovierenden, Lehrenden und Forschenden massiv ein.

Vier Monate später, während die Brutalität und die Zerstörungen des Krieges in der Ukraine unvermindert anhalten, ist klar: Weder wird der Krieg eine flüchtige Episode in der europäischen Geschichte darstellen, noch werden seine Auswirkungen auf die internationalen wissenschaftlichen Beziehungen von kurzer Dauer sein. Damit stellt sich die Frage, welche langfristigen Auswirkungen die gegenwärtigen geopolitischen Risse auf den internationalen akademischen Austausch und die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Zukunft haben. Mit Blick auf die gigantischen globalen Herausforderungen im Anthropozän – von Pandemien über Fragen der Sicherung der Welternährung bis hin zu den Folgen des Klimawandels – ergibt sich stärker denn je die Notwendigkeit, dass alle Staaten dieser Welt als globale Verantwortungsgemeinschaft gemeinsam handeln. Wie aber kann eine globale Verantwortungsgemeinschaft in der Wissenschaft funktionieren, wenn eine neue Welt(un)ordnung und eine substanzielle Verschärfung systemischer Rivalitäten auf unserem Planeten mit damit einhergehen den neuen und umfassenden Aggressionen zu konstatieren sind?

Konkret: Worauf zielt die deutsche Außenwissenschaftspolitik (AWP) angesichts dieser Herausforderungen? An welchen Prinzipien kann und muss sie sich künftig ausrichten? Welche Allianzen sind zu stärken, welche auf den Prüfstand zu stellen? Bei diesen Fragen wird rasch deutlich: Internationaler akademischer Austausch und internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit sind in diesen Zeiten dringlicher als je zuvor, denn wir sind auf die erfolgreiche Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft auf diesem einen Planeten angewiesen. Zugleich sind internationaler akademischer Austausch und internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit komplizierter und riskanter geworden. Es bedarf daher klarer Grundsätze, an denen sich die Ausgestaltung einer AWP in der neuen Zeit orientieren kann und die der DAAD auf der Basis seiner weltweiten Expertise im Folgenden vorschlägt.