Schwerpunktthema

Gain-of-Function-Experimente an Krankheitserregern – Ein kaum zu lösendes Dilemma?

Paradigmatisch für die Ambivalenz der Wissenschaften stehen sogenannte Gain-of-Function-Experimente an Krankheitserregern, durch die die Erreger im Labor neue bzw. bisher nicht beschriebene Eigenschaften erlangen. Dies gilt insbesondere, wenn die Erreger bei den Versuchen im Labor übertragbarer gemacht werden oder beim Menschen oder Tier durch neue Eigenschaften eine schwerere Erkrankung auslösen können. Durch diese Versuche möchte man ein besseres Verständnis der Mechanismen von Infektion und Übertragung erreichen und erhofft sich, auf die regelmäßig auftretenden Ausbrüche natürlich auftretender Erreger (sog. emerging infections) besser vorbereitet zu sein.

Arbeiten zu hochpathogenen Influenzaviren vom Typ H5N1

Im Jahre 2011 haben zwei Forschungsgruppen in den Niederlanden und Japan/USA fünf genetische Veränderungen identifiziert, die notwendig sind, damit für Vögel hochpathogene Influenzaviren vom Typ H5N1 (sogenannte Vogelgrippeviren) zwischen Säugern luftübertragbar werden. Die Forschungsprojekte sorgten weltweit für große Bedenken hinsichtlich der Sinnhaftigkeit und Risiken solcher Arbeiten, da man befürchtete, dass die erzeugten Viren durch fahrlässiges Handeln unbeabsichtigt in die Umwelt gelangen könnten. Weiterhin gab es die Sorge, dass das neue Wissen über die Erreger für die gezielte Erzeugung biologischer Waffen missbraucht werden könnte. Die Forschungsgruppen verteidigten die Bedeutung ihrer Arbeiten damit, dass man aufgrund der Ergebnisse genau vorhersagen könne, wie diese Viren sich durch spontan ablaufende Veränderungen schrittweise zu einer Bedrohung für den Menschen entwickeln können. Mit dieser Erkenntnis ließen sich in der Natur regelmäßig neu auftretende krankmachende Virusvarianten weitaus besser hinsichtlich ihres Pandemiepotenzials einordnen und es könnten gezielter Schutzmaßnahmen, z.B. zur frühzeitigen Brechung von Infektionsketten oder zur zielgerichteten Entwicklung von Impfstoffen ergriffen werden.

Auf Pandemien vorbereitet sein

Die ersten beschriebenen Krankheitsfälle von Covid-19 im chinesischen Wuhan, wo auch in einem Hochsicherheitslabor Gain-of-Function-Experimente an bestimmten Corona-Virus-Isolaten durchgeführt wurden, sowie der bislang nicht geklärte Ursprung der SARS-CoV-2-Pandemie haben die öffentlichen Debatten um diese Forschung neu befeuert. In den USA werden seitdem strengere Prüfverfahren diskutiert, die viele Forscherinnen und Forscher vor Ort als unverhältnismäßige und wenig praktikable Bürokratisierung der Pathogenforschung betrachten. Die sich seit 2019 schlagartig ausbreitende Coronavirus-Pandemie und die rasante Impfstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 verdeutlichten aber auch, wie wichtig die frühzeitige Forschung an hochpathogenen Erregern ist, um in solch akuten Situationen auf vorhandenes Wissen zurückgreifen zu können. Weiterhin unterstrich der Pandemieverlauf, wie essenziell Forschungsfreiheit und der möglichst barrierefreie internationale Austausch von Forschungsergebnissen ist.

Rechtsrahmen und Selbstverwaltung der Wissenschaften in Deutschland

Den möglichen Risiken der Forschung an Pathogenen tragen in Deutschland zahlreiche Regularien Rechnung, deren Ziel es ist, die biologische Sicherheit (Biosafety) zu gewährleisten. Dazu gehören v.a. die Biostoffverordnung, das Gentechnikgesetz und das Infektionsschutzgesetz. Auch zu der als Biosecurity bezeichneten Problematik des möglichen Missbrauchs biologischer Erkenntnisse gibt es eine Reihe von Regularien, beispielsweise das reguläre Strafrecht, die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen und die Bestimmungen des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, die die Entwicklung, Verbreitung und Anwendung biologischer Waffen verhindern sollen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei – neben den Vorsorgemaßnahmen der Sicherheitsbehörden, wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, sowie der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden – der Prävention durch die Selbstverwaltung der Wissenschaften zu. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat 2008 einen Verhaltenskodex zum Umgang mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen veröffentlicht und diesen 2013 aktualisiert. Weiterhin sollen die für alle Fachbereiche geltenden „Empfehlungen zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung“ von DFG und Leopoldina und die deutschlandweit etablierten „Kommissionen für Ethik sicherheitsrelevanter Forschung“ (KEFs) zur Schärfung des Bewusstseins für mögliche Risiken unter Forschenden beitragen. Durch Beratungsangebote helfen die KEFs bei der Risikominimierung, etwa durch eine regelmäßige, strukturierte Abwägung zwischen Risiken und Nutzen, oder wenn alternative, möglicherweise weniger risikobehaftete Forschungsstrategien erkundet werden sollen.

Referenzen und weiterführende Links: